Mein Zug des Lebens

Am 8. September 1958 begann in diesem Haus die Reise meines Lebens, Ziel unbekannt. Mich hatte niemand gefragt, ob ich bereit bin für diese Reise, ich fand mich plötzlich im Großraumwagen wieder, zwischen unbekannten Menschen, in einer unbekannten Umgebung. Und langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Meine Mutter saß neben mir und passte auf, dass mir nichts passiert und ich in diesem mir noch unbekannten Zug mit den vielen Leuten keine Angst haben muss.

Im Laufe der Fahrt stiegen Leute aus und neue stiegen ein, um mich ein Stück der Reise zu begleiten. Der Zug ist eine Art Zeitmaschine: er fährt vorwärts durch die Zeit und durch die Welt. Durch immer wieder neue Landschaften – mal schön, mal hässlich. Ich erlebe spannende Dinge und solche, von denen ich mir wünsche, dass sie nie stattgefunden und ich sie nie gesehen hätte. Ich finde neue Freunde, die auch mit mir unterwegs sind. Aber während ich langsam älter werde, werden auch alle Mitreisenden, die mit mir zusammen im Zug sitzen, älter. Am Anfang merkt man das nicht so sehr, man ist ja noch jung. Nur bei denen, die von Vornherein schon älter sind, fällt es auf. Meine Mutter war 19 Jahre alt, als sie mit mir in den Zug gestiegen ist. Langsam merke ich, dass sie sich verändert und nicht mehr ganz so jung aussieht…

Die Fahrt dauert schon mehrere Jahre und ich weiß immer noch nicht, wo es hingeht und wie die Endstation aussieht. Ich weiß auch nicht, wie lange die Fahrt dauern wird und welche Strecke der Zug nimmt. Während der Jahre, die vergingen, sind die meisten Mitreisenden, die ganz am Anfang noch dabei waren, ausgestiegen. Entweder, weil sie ihre Endstation bereits erreicht haben oder weil sie umgestiegen sind. Ich bin mittlerweile ein relativ alter Mann und ich habe im Lauf der Zeit schon viele Haltestellen erlebt: Schulen, Ausbildungen, Arbeitsstätten, Beziehungen – all das trug sich während meiner Reise bereits zu. Manche Haltestellen waren schön und interessant, manche eher trostlos und langweilig.

 

Auch meine Mutter ist inzwischen ausgestiegen und hinterlässt einen leeren Platz. Sie begleitete mich 80 Jahre auf meiner Reise, doch dann wurde sie müde und krank. Bei anderen hatte ich teilweise gar nicht bemerkt das sie ausgestiegen sind, zu oberflächlich waren die Bekanntschaften.
Aber es ist immer noch eine Reise voller Freuden, Leid, Begrüßungen und Abschiednehmen.

Die schönste Reise geht einmal zuende, so auch meine Reise und die der Menschen, die mich ein Stück des langen Weges begleitet haben. Irgendwann sind wir alle am Ziel angelangt. Aber was ist dieses Ziel? Je älter ich werde, desto mehr denke ich darüber nach. Und darüber, die ich das Ziel erreiche. Ich bin jetzt schon über 60 Jahre lang in diesem Zug mitgefahren und habe das meiste an Strecke hinter mir. „Der Weg ist das Ziel“, sagt zumindest die asiatische Philosophie. Bei der Reise des Lebens ist das ähnlich. Wir ahnen vielleicht nur, wie die Endstation aussieht, wir wissen aber nicht genau, was uns erwartet.


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